Meine erste Erfahrung mit Scrollytelling war eine Multimedia-Reportage des WDR über das Tabu-Thema „Menstruation“ in Nepal. Die Kombination von O-Tönen, Videos, Text und stimmungsvollem Audio hat mich so begeistert, dass ich unbedingt mehr über diese neue Erzählform erfahren wollte. Daher absolvierte ich auf den Jugendmedientagen 2015 einen Workshop zum Scrollytelling-Tool „Pageflow“ mit David Ohrndorf und Stefan Domke beim WDR in Köln – und kreierte in der Folge meine eigene Bewerbung als Scrollytelling!
Was ist Scrollytelling?
Scrollytelling verwendet man synonym zu Multimedia-Storytelling oder Multimedia-Reportage. Der Begriff Scrollytelling leitet sich phonetisch ab von Storytelling. Es geht also darum, Geschichten zu erzählen. Die Bezeichnung fokussiert die Art und Weise, wie die Geschichten beim Scrollytelling rezipiert werden, nämlich durch Scrollen.
Scrollytelling: Storytelling mit dem Mausrad Share on XEs geht jedoch nicht darum, dass der Leser sich durch einen langen Text scrollt. Hier kommt das besondere, multimediale Element des Scrollytellings ins Spiel. Mit dem Scrollen bewegt sich der Betrachter (der Begriff „Leser“ ist schon fast zu eng) durch Seiten, die unterschiedlich aufgebaut sein können, seien es nun Bilder, Videos, Loops, Audioclips oder eine Kombination all dessen.
Scrollytelling oder: Was passiert, wenn Du Audio, Video, Bild und Text in einen Mixer wirfst? Share on XText, Bild, Video und Audio verschmelzen zu einer perfekten Einheit, die aus den klassischen Layouts von Print, TV oder Radio ausbricht. Die einzelnen Seiten lassen sich zudem in beliebiger Reihenfolge rezipieren. Die lineare Rezeption ist nur eine Option unter vielen, was den Rezeptionsgewohnheiten von Internetnutzern entspricht. Indem die besten Eigenschaften jedes Mediums (Bild, Ton, Schrift) auf die bestmögliche Wirkung hin kombiniert werden, können Geschichten auf neue, innovative Weise dargestellt werden. In der Symbiose entfalten sich unbekannte Möglichkeiten der Wirkung. Durch die unzähligen Kombinationen sind Multimedia-Reportagen kaum Grenzen gesetzt.
Der Betrachter wird durch die multimedialen Möglichkeiten noch tiefer und intensiver in Themen und Geschichten hineingezogen als bei klassischen Reportagen. Am besten bleiben uns Dinge im Gedächtnis, wenn besonders viele Sinne angesprochen werden. Genau das macht sich Scrollytelling zunutze, indem es eben nicht nur Text, sondern auch Bilder, Videos und Audio einsetzt.
Wenn ich alles mit allem kombinieren kann, dann ist es Scrollytelling Share on XWie kam es dazu?
Das Konzept des Scrollytellings kommt ursprünglich aus einem Artikel der New York Times von 2012. Das Erzählformat war innovativ: Text liegt auf Bewegtbild, beim Scrollen öffnet sich fast übergangslos eine neue Seite, darauf eingebunden ein Video, auf der nächsten Seite Text und Fotos wie in einer klassischen Reportage, doch trotzdem irgendwie anders. Die Geschichte „Snow Fall – Avalanche at Tunneol Creek“ ist noch vergleichsweise textlastig, aber sie hat das Feld für eine ganz neue Art der multimedialen Reportage eröffnet.
Das Faszinierende an dem Artikel in der Times ist, dass einzelne Elemente wie Fotos, Videos, Audio oder Infografiken für sich genommen nichts Neues sind, doch die Art und Weise der Kombination ist revolutionär. Schnell haben sich Nachahmer gefunden, die das Konzept verfeinerten.
Aus Alt mach Neu: mit Scrollytelling alte Medien neu kombinieren Share on XEs ist nicht alles Gold, was glänzt
Im Gegensatz zu Print, TV und auch Online-Artikeln, bei denen lediglich die Käufer-, Zuschauer- oder Klickzahlen als Maßstab für den Erfolg dienen, lässt sich bei Scrollytelling genau feststellen, welche Seiten der Reportage der Betrachter durchscrollt. Und dort liegt das Problem: Statistiken ergeben, dass viele Multimedia-Reportagen gar nicht erst bis zum Ende durchgeklickt werden (bei allen anderen Medien mag dies auch so sein, es lässt sich nur nicht präzise feststellen). Der Grund dafür liegt maßgeblich an der Machart der jeweiligen Reportagen, die die Betrachter abschrecken oder aus der Geschichte stoßen. Schon nach wenigen Seiten ist der Betrachter gelangweilt und steigt aus. Es gibt also einige Fallstricke zu beachten, möchte man sicherstellen, dass die Geschichte bis zum Ende verfolgt wird.
Viele Scrollytelling-Reportagen sind nicht so gut gemacht, wie sie sein könnten, weil genau diejenigen gestalterischen Aspekte, die uns im Workshop vermittelt wurden, missachtet worden sind.
Worauf muss man beim Scrollytelling achten?
Es gibt ein paar simple Gestaltungshinweise, die den Unterschied zwischen einer guten, einer sehr guten und einer misslungenen Scrollytelling-Geschichte ausmachen. Einige dieser Fallstricke beschreibe ich für Sie:
Text
Je nach Format des Scrollytellings sollte nicht zu viel Text eingebunden werden. Durch die Kombination mit Bild, Audio, Video und Text können viele Informationen visuell oder akustisch transportiert werden. Der Witz beim Scrollytelling ist ja eben, dass gar nicht viel Text nötig ist, um eine spannende Geschichte zu erzählen.
Bisherige Scrollytelling-Reportagen werden oft wegen ihrer Textlastigkeit kritisiert. Sie bleiben also hinter ihren multimedialen Möglichkeiten zurück. Durch zu viel Text wird dem Leser eine lineare Rezeption aufgezwungen, an der er womöglich schnell die Lust verliert.
Bilder und Bewegtbilder
Wichtig ist, dass die Bilder professionell gemacht sind. Durch die großformatige Darstellung fallen schlechte Auflösung oder verwackelte Bilder dem Betrachter natürlich sofort negativ auf. Daher sollte man bereits bei der Erstellung der Bilder – ob nun Foto, Grafik oder Bewegtbild – im Vorhinein die Kombination mit Text oder Ton einplanen. Da der Text immer rechts oder links positioniert ist, sollte das Bildzentrum nicht genau in der Mitte liegen, weil es ansonsten – je nach Bildschirmgröße des Nutzers – von Text verdeckt wird und nicht mehr gut zu erkennen ist.
Ob nun Loops, Videoclips, Vorher-Nachher-Slider oder 360°-Panorama-Bilder: Wegen der visuellen Dominanz beim Scrollytelling ist die Qualität der Bilder extrem wichtig.
Beispiel: Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel: Die taz brachte eine Scrollytelling-Reportage über Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa, die ausschließlich aus Video- und Bildmaterial bestand, das die Flüchtlinge selbst auf ihrer Flucht mit ihren Handys aufgenommen hatten. Trotz oder gerade wegen der mangelhaften Qualität funktioniert diese Reportage sehr gut, die Bilder sind authentisch und der Betrachter hat das Gefühl, live dabei zu sein.
Die Redakteure der taz kompensierten die verwackelten, unscharfen Bilder mit einer Reduzierung des Texts: Dieser wurde nicht über die Bilder gelegt – wodurch der Betrachter einerseits vom Bild abgelenkt würde und andererseits der Text wegen des hektischen Hintergrundbildes nur schwer lesbar wäre – sondern die schriftlichen Informationen wurden separat geliefert. Der Betrachter kann sich daher ungestört sowohl auf den Text als auch auf die Bilder konzentrieren.
Loops
Loops sind sich wiederholende Video- oder Audioschleifen. Videoloops werden statt eines Hintergrundbildes gesetzt. Hierbei ist es wichtig, dass nicht zu viel Bewegung das Bild unruhig macht und dadurch das Lesen des Textes erschwert.
Audioloops eignen sich vor allem dazu, Atmosphäre zu erzeugen. Auch hier gilt, dass der Ton nicht zu penetrant sein sollte, um nicht vom Text oder Bild abzulenken. Sowohl Audio- als auch Videoloops sollten natürlich zum Inhalt der Geschichte passen.
Beispiel: In der Scrollytelling-Reportage von Quarks & Co „Tödliches Palmöl“ über die Abholzung der Wälder und die Jagd auf Orang-Utans hört man zu Beginn Dschungel-Geräusche – plötzlich wird die friedliche Atmosphäre durch laute Schüsse unterbrochen. Der Audioloop definiert damit perfekt das Thema der Geschichte.
Vorher-Nachher-Slider
Ein raffiniertes Merkmal ist der Vorher-Nachher-Slider, den das Scrollytelling-Tool Pageflow bietet. Der Betrachter kann hier mit einem Schieber zwischen deckungsgleichen Bildern wechseln. Für die Deckungsgleichheit muss der Fotograf jedoch selbst sorgen.
Inhalte
Die Inhalte hängen vorrangig von der Kreativität des Erzählers ab. Wegen der vorrangig visuellen Ausrichtung lassen sich anschauliche, emotionale Themen besonders gut mit Scrollytelling erzählen.
Beispiel: Visuell und erzählerisch hochwertig haben es die Brüder Christian und Markus Dassel auf die Spitze getrieben. Sie begleiteten den Straßenmusiker „Onkel Willi“ in Münster über längere Zeit. Die Reportage erzählt von den Höhen und Tiefen seines Lebens und wurde 2015 für den Grimme Online Award nominiert. (Wenn Sie das anschauen: Taschentuch bereithalten!)
Reportagen bringen den Leser hautnah an das Geschehen heran, daher eignen sie sich natürlich besonders gut für Scrollytelling. Andererseits lässt sich jedes Thema visualisieren – solange man originell und kreativ genug ist. Stellen Sie sich Scrollytelling für Geschäftsberichte, Bewerbungen, Marketingpräsentationen oder andere Formate vor!
Scrollytelling: Mit Kreativität lässt sich jedes Thema multimedial umsetzen Share on XBeispiel: Auch sehr fakten- und informationslastige Themen, die wenig emotional sind, können also durch Scrollytelling ansprechend aufbereiten werden, wie der Guardian mit der NSA-Affäre gezeigt hat.
Jeder Text ist im Fluss, auch Multimediatexte. Scrollytelling ist so flexibel, dass es sogar darauf reagieren kann: Laut David Ohrndorf ist Scrollytelling ideal für Fortsetzungsgeschichten, da sich mit wenigen Handgriffen Seiten einfügen oder entfernen lassen, wie am Beispiel „Onkel Willi“ zu sehen ist.
Pageflow – das Tool
Stefan Domke und David Ohrndorf entwickelten das cloud-basierte Scrollytelling-Tool „Pageflow“ für den WDR. Da das Projekt durch Rundfunkgebühren finanziert wurde, darf Pageflow kostenfrei genutzt werden. Nur wer seine Reportagen veröffentlichen will, muss eine kleine Nutzungsgebühr bezahlen. Die Anwendung ist sehr simpel, fast selbsterklärend: Bilder, Videos und Audio-Dateien hochladen, Text eingeben und fertig. Per Drag-and-drop lässt sich die Reihenfolge der Seiten bestimmen. Programmierkenntnisse sind nicht nötig. Stattdessen funktioniert das Tool nach dem WYSIWYG-Prinzip („What you see is what you get“): eine Live-Vorschau zeigt sofort alle Änderungen.
Außerdem lässt sich einstellen, ob der Zugriff auf die Präsentation öffentlich ist oder eingeschränkt wird.
Kreative Bewerbung mit Pageflow
Es müssen nicht unbedingt journalistische Inhalte sein, prinzipiell lässt sich alles multimedial aufbereiten. Was ist da naheliegender als eine Bewerbung per Scrollytelling? Vor einiger Zeit stellten wir in unserem Blog-Beitrag „1.001 kreative Wege zum Traumjob“ originelle Beispiele vor, sich zu bewerben. Mit einer Scrollytelling-Bewerbung machen Sie jeden Personaler auf sich aufmerksam!
Kreative Bewerbung per Scrollytelling. Erzähl‘ Deine Bewerbung! Share on XBeispiel: Ich habe das selbst vor kurzem ausprobiert und wurde prompt zum Vorstellungsgespräch eingeladen. (Bearbeitungszeit mit Fotoauswahl: etwa 60 Minuten.)
Bei der Verwendung der Bilder sollten Sie natürlich, wie immer, das Urheberrecht beachten. Darauf haben wir in diversen Blog-Beiträgen „Bilder im Netz: So geht’s“ und „Neues Urteil zur Bilder-Nutzung im Web“ bereits hingewiesen.
Fazit: Mitdenken!
Scrollytelling ist eine supercoole Möglichkeit, Geschichten zu erzählen – wenn man es richtig einsetzt. Der Aspekt der Gestaltung ist immens wichtig und darf nicht unterschätzt werden. Bereits im Vorhinein muss man sich viele Gedanken um die Erstellung und die finale Einbindung des Bild- und Tonmaterials machen. Also: Mitdenken!
Planen, konzeptionieren, mitdenken: Scrollytelling ist nicht simpel, macht aber Spaß Share on XWer ohnehin gerne mit Fotos und Videos arbeitet, dem kann ich empfehlen, sich mit Scrollytelling auseinanderzusetzen. Die Anwendung von Pageflow ist kinderleicht und macht richtig Spaß. Vielleicht ist die Präsentation des nächsten Firmenprojektes ja ein schöner Anlass, sich daran auszuprobieren?
Es ist keine Kunst: Wer die oben erläuterten Gestaltungshinweise beachtet, kann innerhalb kürzester Zeit eine ansehnliche Scrollytelling-Präsentation zaubern.
Viel Spaß dabei!
Wir bedanken uns, dass Sie bis hierhin gescrollt haben und hoffen, dass Ihnen der Beitrag gefallen hat. Empfehlen Sie ihn doch bitte weiter!
Jetzt sind Sie gefragt: Kannten Sie Scrollytelling-Formate bereits oder haben Sie erst durch diesen Blog-Beitrag davon erfahren? Kennen Sie weitere Reportagen, die wir vielleicht übersehen haben? Oder haben Sie Vorschläge und Beispiele, wofür man Scrollytelling noch verwenden kann, außer für Reportagen und Bewerbungen? Über einen kurzen Hinweis in den Kommentaren freuen wir uns sehr.
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